Quelle: Prof. Dr. J. C. Türp, Basel.
Schienen-Therapie und Evidence-Based Medicine
Ich wollte eigentlich nur etwas zu sekundärem (iatrogenem, medikamentös verursachtem) Bruxismus wissen (Studie 2007). Und der Zufall will es, dass ich da ausgerechnet an Herrn Professor Dr. Türp gerate.
Einer der führenden Spezialisten auf dem Gebiet der Diagnostik und Therapie der Cranio-Mandibulären Dysfunktionen (CMD).
Ich schrieb ihn an und bat um ein Interview. Er antwortete überraschend schnell und war fix bereit für ein Interview.
Schienen-Therapie vs. Alternative Medizin
Ich habe ja null Plan davon, was die konventionelle Schienentherapie angeht, oder was die neuesten Entwicklungen nach Slavicek sind.
Ich habe alle meine CMD-Beschwerden mit Körperarbeit in den Griff bekommen – aber dazu mehr in einem anderen Post.
Die Kombination von Beiden
Es ist doch wurscht, ob Evidence-Based Medicine oder minimalinvasive Alternativmedizin. Die Verbindung von beiden Ansätzen wäre nicht nur für Patienten, sondern auch für Behandler interessant.
Interview mit Herrn Professor Dr. Jens Türp
Klinik für Rekonstruktive Zahnmedizin und Myoarthropathien, Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel
1) Was sind die wichtigsten Behandlungsmaßnahmen bei Bruxismus und CMD?
Antwort: Türp:
1.1 Selbstbeobachtung
Der erste Weg bei Bruxismus ist die Selbstbeobachtung, um sich selbst klar zu machen, ob man am Tage häufiger mit den Kiefern presst oder mit den Zähnen knirscht, als einem bislang selbst bewusst geworden ist.
1.2 Aufkleber
Dazu eignen sich farbige Aufkleber ●, die man an Stellen befestigt, auf die man während des Tagesverlaufs mehr zufällig ab und zu schaut. Also zum Beispiel einen Kleber auf:
- das Telefon ●
- der andere auf eine Tasche ●
- noch einen an einen Schrank ●
- und zuletzt an einen Spiegel ●.
1.3 Wie stehen die Zähne zueinander?
Wenn man nun im Tagesgeschehen eine solche Farbmarkierung erblickt, sollte man sich fragen, ob in diesem Moment die Zähne gerade Kontakt haben oder nicht.
Normalerweise sollten sie, außer beim Kauen, keinen oder nur schwachen Kontakt aufweisen.
1.4 Entspannungsverfahren senken den Muskeltonus
Ertappt man sich aber dabei, dass man regelmäßig fest zusammenbeißt, so liegen starke Hinweise für Bruxismus vor.
Eine wichtige Therapieempfehlung ist in diesem Falle das Erlernen und tägliche Durchführen eines Entspannungsverfahrens. Ferner sollte zum Schutz der Zähne im Schlaf eine orale Schiene getragen werden.
1.5 Michigan-Schiene als Evidence-Based Medicine
International ist die Michigan-Schiene die erste Empfehlung. Diese wurde Mitte der 1960er Jahre an der Universität von Michigan entwickelt und gilt heute unter allen Okklusionsschienen als Goldstandard.
Ihre positive Wirkung bei Bruxismus, Kaumuskelschmerz und Kiefergelenkschmerz ist in vielen wissenschaftlichen Studien belegt.
1.6 Vorsicht bei anderen Schienen (Frontzähne)
Dagegen empfehle ich nicht solche Aufbissbehelfe, die nur einige wenige Zähne bedecken, also zum Beispiel nur die Frontzähne. Das Tragen solcher Fabrikate kann zu unerwünschten und äußerst unangenehmen Nebenwirkungen führen.
Dazu zählen beispielsweise Zahnlockerungen, Veränderungen der Stellung von einzelnen Zähnen oder Bissveränderungen des Unterkiefers.
Buch zum Thema Schienentherapie
Im Herbst 2016 wurde im Berliner Quintessenz Verlag übrigens ein von Professor Hans Schindler (Universität Heidelberg) und mir herausgegebenes Buch zum Thema Schienen- und CMD-Therapie herausgebracht.
Titel: „Konzept Okklusion“, das den aktuellen internationalen Stand der Wissenschaft zu dem Thema zusammenfasst.
Inhalt:
Schmerzreduktion oder Schmerzbeseitigung ist das ursprüngliche und vordergründige Ziel zahnärztlicher Behandlungen.
Dieser Anspruch trifft in besonderem Maße auf die Verwendung von Okklusionsschienen bei der Behandlung schmerzhafter Cranio-Mandibulärer Dysfunktionen (CMD) zu, deren Grundlagen dieses Buch im Rahmen eines besonderen Konzepts vermitteln möchte.
https://www.quintessenz.de/books.php?idp=19700
Inhaltsverzeichnis
http://d-nb.info/1115353357/04
2) Wie sieht es mit der Psyche aus?
Antwort: Türp: Menschen mit Schmerzen reagieren auf Beschwerden immer auch mit der Psyche. Wäre dies nicht so, wären wir keine Menschen.
Vor allem bei anhaltenden, chronischen Schmerzen ist es geradezu natürlich, dass man besorgt, verängstigt und/oder depressiv verstimmt ist.
Diese schmerz-begleitenden Reaktionen sind normal, aber es gilt, sie im Rahmen der Diagnostik und Therapie mitzuerfassen.
Vielfach werden diese begleitenden Befunde ignoriert, was nicht förderlich für den Behandlungserfolg ist. Um es noch einmal klarzustellen: psychische Befunde sind meistens die Folge von CMD-Schmerzen.
Daher ist der Begriff „psychosomatisch“ hier falsch. Stattdessen sollte es „somatopsychisch“ heißen: Erst das körperliche Problem, dann die psychische Reaktion.
3) Wie beurteilen Sie Operationen an den Kiefergelenken?
Antwort: Türp: Die Indikation für operative Eingriffe an den Kiefergelenken ist heute sehr, sehr eng. Der aller größte Teil der CMD-Fälle lässt sich mit nicht-invasiven, reversiblen Methoden bessern.
Also beispielsweise mit Physiotherapie, einer Schiene während des Schlafs, einem für kurze Zeit gegebenen Medikament und/oder einem Entspannungsverfahren.
All diese Maßnahmen sind hinsichtlich ihrer Wirkung, hinsichtlich Schmerzen und eingeschränkter Unterkieferbeweglichkeit gut belegt.
4) Bildgebende Verfahren sind nicht immer zielführend.
Antwort: Türp: Vorsicht ist geboten grundsätzlich vor mechanistischen Konzepten, die den Menschen nicht als biologisches Wesen, sondern als eine Art lebenden, spiegel-symmetrischen und geräusch-freien Artikulator sehen.
Jeder Mensch ist ein Unikat, das nicht symmetrisch gebaut ist und sich von anderen Menschen unterscheidet. Daher ist auch vor zu viel Bildgebung zu warnen.
Eine Panoramaschichtaufnahme ist zum Zwecke der Differentialdiagnostik in Ordnung. Aber andere Verfahren, wie digitale Volumentomographie oder Magnetresonanztomogramme (Kernspintomogramme) der Kiefergelenke, sollten nur in begründeten Sonderfällen eingesetzt werden.
Abweichungen von einer schönen Abbildung aus einem Lehrbuch findet man bei den meisten Menschen, egal ob mit oder ohne CMD.
5) Wie schätzen sie die alternativen Methoden ein, einschließlich Bionator, Funktionsregler und Relaktor, die einen muskulären Ansatz verfolgen?
Antwort: Türp: Ich bin grundsätzlich gegenüber allen angebotenen diagnostischen und therapeutischen Methoden offen und freue mich, wenn das Spektrum erweitert werden kann.
Allerdings sollten alle Methoden grundsätzlich auf ihren Nutzen hin überprüft worden sein. Leider kommen einige Dinge viel zu schnell auf den Markt, ohne dass bekannt ist, ob sie nützen oder vielleicht sogar schaden.
Diejenigen, die Methoden, egal ob etabliert oder neu, vorschlagen, stehen in der Pflicht, Belege für die Wirksamkeit dieser Methoden zu liefern. Dies gilt auch für die von Ihnen angesprochenen drei Apparaturen.
6) Ausschlusskriterien für die Michigan-Schiene
Antwort: Türp: Personen, die unter 16 Jahren sind, sollten noch keine Schienentherapie mit der Michigan-Schiene beginnen. Grund: Die Okklusion der Zähne ist noch nicht endgültig eingestellt.
Ich danke Ihnen für das Gespräch.
Weitere Informationen
1) CMD- Die richtige Hilfe bei Kieferbeschwerden. Spiegel online, 2014
Tanja Wolf im Gespräch mit Prof. Dr. Türp
http://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/craniomandibulaere-dysfunktion-diagnose-und-therapie-bei-cmd-a-977237.html#js-article-comments-box-pager
2) Wenn „ZahnRat 72“ zum Knackpunkt wird: Über qualitative Mängel einer Patienteninformation.
Dtsch Zahnärztl Z 2013;68:99-108
J. C. Türp 1, H.-J. Schindler 2, , G. Antes
https://www.researchgate.net/publication/291046596_Wenn_zahnRat_72_zum_Knackpunkt_wird_Uber_qualitative_Mangel_einer_Patienteninformation
3) CMD: Welche Therapieformen sind nachweislich wirksam? Vortrag, Deutscher Zahnärztetag 2010, Frankfurt/Main, 13. November 2010. Jens C. Türp
Eine Übersicht zu den verschiedenen Schienen-Typen, die es gibt.
http://www.dental.uni-greifswald.de/abteilung/kons/pdf/schienenskript
Fazit:
▶ Evaluiert, ob euer Behandler:
a) sich nach der Psyche und Medikamenten erkundigt,
b) auf Kontra-Indikationen hinweist: starker Bruxismus + Kieferfehlstellung,
c) auf andere Schienentherapie-Konzepte verweist, die in eurem speziellem Fall eventuell besser wären.
▶ Nicht jeder Arzt hat das für den Patienten geeignete Schienentherapie-Konzept in der Praxis.
Weitere Informationen folgen…